Seligsprechung der 109 Claretiner-Märtyrer

am 21. Oktober 2017 in der Basilica de la Sagrada Familia in Barcelona

 

 

Einige persönliche Gedanken, Eindrücke, Erlebnisse

von P. Erwin Honer CMF

Erzbischölficher Konsistorialrat

 

I. Barcelona –Atmosphäre

Es ist Samstag, 21. Oktober 2017. In Barcelona liegt etwas in der Luft; eine eigenartige Stimmung. Jeder spürt es, weiß es, will es nicht groß bereden. Es kommt mir vor, als ob die Barcelonesen den bekannten Spruch internalisiert hätten: „Immer daran denken, nie davon sprechen“ – während die Volksseele kocht… Schließlich sollen die Besucher in ihrer Stadt ein Barcelona erleben, wie es sonst leibt und lebt: Gelassen, heiter, geschäftig, weltoffen… Doch die blinde Attacke auf den Ramblas vor ca. zwei Monaten mit vielen Toten sitzt noch tief… Und gerade jetzt, wo diese Wunde heilen und vernarben sollte, bricht geradezu eruptiv einer neuer – aber uralter – Konflikt aus, der sogar das Alltagsgeschehen überlagert und beherrscht: Die latenten Gegensätze, ja Feindschaften zwischen Katalonien und dem übrigen Spanien werden virulent und werden offen ausgetragen. Der Präsident Kataloniens drängt auf völlige Unabhängigkeit von Madrid. Madrid lässt dies auf keinen Fall zu. So ist die „Guardia Civil“ beim Referendum am 1. Oktober 2017 mit Gummigeschossen und Schlagstöcken vorgegangen: Hunderte Verletzte. Die Katalanen sind noch geschockt. Heute, Samstag, soll wieder einmal eine große sternförmige Demonstration durch die Stadt führen. An Fenstern und Balkonen grüßen uns viele Senyeras, Fahnen Kataloniens, unzählige Estreladas, Fahnen der Unabhängigkeit Kataloniens, und auch manche spanische Nationalflaggen. Wir: Ankit, Misiya, Alfons, Cyriakus und Erwin – fünf Claretiner aus Deutschland – sehen unterwegs wie sich gerade eine Gruppe Demonstranten formiert, mit Plakaten wie „Votamos para ser libres“. Im Vorübergehen gelingt mir ein Foto. Nur nicht in etwas hineingeraten. Nur nirgends anstreifen. Wir gehen geflissentlich weiter. Schließlich gehen wir auch zu einer Großveranstaltung: Zur Seligsprechnung von 109 Claretiner-Märtyrern in der Sagrada Familia mit tausenden Gläubigen. Heute erlebt die Sagrada Familia, die erst vor sieben Jahren, 2010, von Papst Benedikt XVI. geweiht wurde, aber noch der endgültigen Fertigstellung harrt, eine Premiere – und wir auch: Die erste Seligsprechung!

 

II. Seligsprechung – was ist das?

,Seligsprechen‘ – versteht das heutzutage noch jemand?

,Seligpreisen‘ – das kann man noch verstehen, obwohl es fast nur noch in der Bibel vorkommt.

,Glückselig sein‘ – das wünschen sich alle.

Aber ,selig sprechen‘? Was ist das? Wer spricht da wen selig?

Während ich versuche einige Erlebnisse und Gedanken zur Seligsprechung unserer 109 Claretiner-Märtyrer niederzuschreiben, ist mir sehr wohl bewusst, dass ein solches Ereignis zwar ein erlebnisstarkes, aber letztlich gottdurchwirktes Geschehen darstellt und eigentlich theo-poetisch gefasst gehört, wie es der Schweizer Theologe Kurt Marti erhofft, wenn er schreibt:

„Vielleicht hält Gott sich einige Dichter, damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhandengekommen ist.“

Wie also über eine Seligsprechung so schreiben, dass davon „bonus odor Christi“, ein „Wohlgeruch Christi“ (vgl. 2 Kor 2,14-17) ausgeht? Die Bibel drückt es folgendermaßen aus: „Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Mt 5,10

„Endlich einer, der sagt: ,Selig, wenn man euch verfolgt.‘ und nicht: ,Passt euch jeder Lage an!‘“ (Martin Gutl)

„Wenn ihr wegen des Namens Christi beschimpft werdet, seid ihr selig zu preisen.“ 1 Petr 4,14

Die von der Bibel und von den jeweils zeitgenössischen Gläubigen Seliggepriesenen werden von Rom auf Beweise für außergewöhnliche Frömmigkeit, für heldenhafte Tugend und Wunder durchforstet. Dann wird in einer Art Gerichtsverhandlung mit Verteidiger und Staatsanwalt alles vorgebracht, was für eine Seligsprechung spricht. Der „advocatus diaboli“ zieht alles in Zweifel. Nichts als die reine Wahrheit soll ermittelt werden. Der amtierende Papst fungiert als Richter, um dann in Form einer päpstlichen Proklamation im Rahmen einer feierlichen Messe die Seliggesprochenen zur Verehrung freizugeben. Dies ist für unsere 109 Claretiner-Märtyrer am 22. September 2016 von Papst Franziskus für gut geheißen und die Feier der Seligsprechung von unserer Generalregierung auf heute, den 21. Oktober 2017, festgelegt worden.

 

III. Basilica de la Sagrada Familia

Wir stehen und warten geduldig in der Herbstsonne vor der Westfassade – Passionsfassade – dieser imposanten eigen-willig-kreativen, sympathischen Basilika. Mir fällt unwillkürlich ein Hundertwasser-Spruch ein: „Eine Gerade ist gottlos.“ Denn in der Natur gibt es keine Gerade. Und die bunten, farbenfrohen Hauben auf den Türmen, die wir sehen, erinnern mich auch an den Wiener Künstler. Ich denke schon: Wer hat von wem? Natürlich war Gaudí früher, ist das Original. Was mir an dieser Passionsfassade auffällt sind die recht kantigen, eckigen, strengen Formen der Figuren. Wollen sie den Inhalt der Passion voll expressionistisch darstellen? Ich sehe einen Hahn und denke an Petrus. Ich sehe eine Frau, die Jesus ein Tuch reicht zum Abwischen von Blut und Schweiß, deren Namen jeder kennt, obwohl in der Bibel diese Szene gar nicht vorkommt. Doch die Tradition hat dieser Frau einen passenden Namen gegeben, nach dem Abbild (vera ikón) im Tuch: „Veronika.“ Alle und alles überragend an Größe und Präsenz: ist Christus am Kreuz. Weiter oben – aber noch im Schatten der Morgensonne – entdecken wir voll Freude die Statue unseres Ordensstifters St. Claret. Spätestens in ca. einer Stunde, zur Seligsprechung der Claretiner-Märtyrer, wird auch St. Claret in vollem Sonnenlicht erstrahlen… Noch stehen wir direkt vor sehr massiven, hohen Eisengittern im Eingangsbereich. Dahinter stehen viele Polizisten, Sicherheitsbeauftrage, Ordner. Einlass gibt es nur für akkreditierte Personen. Für andere – Besucher, Touristen – ist die Basilika während der Feier gesperrt. Erhöhte Sicherheitskontrollen haben Vorrang – und beruhigen. Nach Öffnung des Eisentores deponiere ich meine Albe und Stola in der Sakristei und schreite in den Kirchenraum – und komme aus dem Staunen nicht heraus.

 

IV. Eine Raum-Entdeckungsreise

Ich stehe momentan da wie regungslos, lausche mit dem Gesicht nach oben, staune, schaue wie ins Himmlische, und merke gar nicht, wie mein Kinn sich nach unten bewegt und mein Mund sich weit öffnet – vor lauter Staunen. Wie könnte ich da eine nur distanzierte Betrachterrolle einnehmen, wo mich alles in Atem hält, mich anzieht, mich begeistert. Über mir – und in mir – breitet sich ein Raum aus voll Licht, Farbe und sonnendurchflutetem Glanz, der mich heiter stimmt, mich fast schwerelos erhebt und mich umhüllt wie leise, fröhliche Musik… Ich gebe mich ganz dem Schauen hin, überlasse mich dem schöpferischen Spiel des bunten, wogenden Lichtes, das voll Strahlkraft und Wärme – wie aus Gottes Fülle – Glanz, Schönheit und Freude in dieses Gotteshaus fließen lässt. Die dem Fensterglas innewohnende Leuchtkraft zaubert eine festliche Atmosphäre, etwas Geheimnisvolles in diesen Innenraum – und in meine Seele. Immer neue Bilder und Ein-drücke umschmeicheln alle meine Sinne. Wie bei einer zarten Komposition aus tanzenden Farben, Lichtwellen und leisen Jubel-Klängen gerät der ganze Innenraum in melodisch-leise Schwingung und Stimmung. Alles wirkt stimmig, harmonisch und wie verspielt. Da geht einem der Himmel auf… Das Raumerlebnis wird zum Ereignis. Der Raum-Körper erschließt sich immer mehr, immer anders, immer ein „Noch Mehr“, immer gibt er etwas Überraschendes preis – wie bei einer inneren Entdeckungsreise… Während ich von Basiliken gewohnt bin, dass alle Säulen stramm in Reih und Glied stehen, alles streng geometrisch-symmetrisch angeordnet ist, so scheint mir hier alles anders. Diese Basilika – fünfschiffig mit dreischiffigem Querhaus – wirkt auf mich wie ein schöpferisches Durch-ein-ander, ein intuitives Für-ein-ander und ein sich fügendes In-ein-ander. Und doch eine Einheit. Alles ist aufeinander abgestimmt in Form, im Material und in den Farben stimmig – und harmonisch durch und durch. Hier wird es einem leicht gemacht an Gott zu glauben, in sein Geheimnis einzutauchen. Antoní Gaudí, der fast vierzig Jahre plante, und vierzehn Jahre lang, bis zu seinem Tod, hier in einer Werkstatt ganz einfach und naturbewusst – fast wie ein Eremit – hauste, lebte und arbeitete, muss außer der Kunst auch die Natur geliebt haben. Denn die Pfeiler und Säulen wachsen wie schlanke, lange Baumstämme weit über fünfzig Meter himmelwärts, scheinen sich zu verjüngen, und ihre strahlenden Lichtkronen weit ausladend auszubreiten und zu verströmen in fast unerreichbare, lichte Höhen. Es ist, also ob sich wie durch zarte Nebelschleier die Oberlichter wie Fenster zum Himmel öffneten… Was für ein himmlisches Wunderwerk hat Gaudí hier geschaffen, nein: erschaffen! Ein Wunderwerk an kreativer Ordnung und Schönheit! „Dass Gott schön werde“ habe ich unlängst irgendwo gelesen. Ich spüre eine kreative Energie, eine schöpferische Urkraft, die mich innerlich bewegt, mich still und gelöst werden lässt. Wie ein Traum, der in Erfüllung geht. Träume ich? Was neben mir vorgeht an Vorbereitungen nehme ich überhaupt nicht wahr. Hoffentlich stehe ich niemandem im Wege, wenn ich mich so nach oben und ins Weite schauend langsam weiterbewege. Ich merke nur manchmal wie Ordner die Absperrbänder unaufgefordert öffnen, wenn sie sehen, wie ich – bewundernd nach oben staunend – mich langsam bewege vorwärts, seitwärts oder rückwärts, total versunken im Erlebnis dieses Raumes.  Was sich meinen Augen eröffnet, und was Großartiges sich prägend in meine Seele ein-bildet, dafür sind alle Worte zu klein. Das lässt sich auch im Foto nicht festhalten. Ich werde dieses mir widerfahrene Raum-Erlebnis in meiner Seele wie eine kostbare Perle bergen – in Bewunderung für den Künstler und Architekten Antoní Gaudí.

 

V. Antoní Gaudí

Was für ein Lebens-Künstler, Architektur-Künstler, theo-poetischer Glaubenskünstler er war! Welche unkonventionelle Hingabe, Schaffensfreude und Passion für sein Lebenswerk! Gaudí wird zum Symbol, dass echte Kunst und Religion zusammengehören, einander sympathisch sind. Diese Sympathie spiegelt für mich die Sagrada Familie wider, erbaut für einen sympathischen Gott – zum Heil der Menschen. Gaudí’s wichtigstes Lebenswerk ist ganz aufgegangen in dem von ihm kreierten Kunstwerk. Er hat es ,ad majorem Dei gloriam‘ geschaffen für den, der einst ihn selber geschaffen hat. Gaudí’s Gottes-Haus dient nicht nur der Verschönerung und Bereicherung der Liturgie, sondern, ich möchte fast sagen, diese Kirche wird selbst zur ,Liturgie‘, weil sie uns zu verwandeln vermag in einen lebendigen Lobpreis Gottes. Dieses Gottes-Haus verkündet uns das Evangelium - ohne Worte. Hier ist Gott „auf Sendung“! Dieser Kraftort des Glaubens wird zum Gebet, das aus dem Grund der Seele aufsteigt. Er lässt uns entdecken, wo Gott uns entgegenwartet. Hier lässt sich Gott nicht auf eine schöne Kindheitserinnerung verkürzen, hier öffnet uns eine Urkraft für das unfassbare Geheimnis: Teil eines großen Ganzen zu sein, sich im Ursprung unendlicher Liebe wiederzufinden. Gaudí kann mich lehren, allein sein zu können ohne mich einsam zu fühlen im Erleben von Kunst, im Erleben des ,Ganz Anderen‘. Mir ist bewusst, dass es auch kritische Stimmen zu dieser Basilika gibt. Es heißt: Man müsse erst abwarten bis die Kirche – jetzt in der Zeit nach Gaudí – ganz fertiggestellt sei, um das Ganze abschließend beurteilen zu können. Meine ganz persönlichen Eindrücke allerdings werden bleiben, samt meiner Meinung, dass dieser Künstler einen würdigeren Tod verdient gehabt hätte… Auf seinem täglichen Weg zur heiligen Messe wurde er 1926 – noch in Gedanken bei seiner Baustelle? – von einer Straßenbahn angefahren und schwerst verletzt. Weil er – sehr einfach, fast wie verwahrlost gekleidet – als Vagabund angesehen und tragischer Weise im Krankenhaus auch so behandelt wurde, starb er drei Tage später - fast 74 Jahre alt.  Zehn Jahre später wurden im Spanischen Bürgerkrieg 1936 seine Aufzeichnungen und Pläne verbrannt. Vernichtet wurden sie von den gleichen Kirchenhassern, die auch Verursacher der heutigen Seligsprechung wurden. Aufgrund seines Lebensstils, seiner tiefen Frömmigkeit, Mystik und Demut, wurde vor etwa zwanzig Jahren, 1998, in  Rom sein Seligsprechungsprozess innerhalb kürzester Zeit bewilligt. Wie würde ich mich freuen, wenn ich noch erleben dürfte, dass er – vielleicht zu seinem 100. Todestag – seliggesprochen würde, als wohl erster Architekt weltweit. Bis dahin, 2026, soll Gaudí’s Lebenswerk, die Sagrada Familia, ganz fertiggebaut sein, und würde für seine eigene Seligsprechung festlich bereitstehen…

 

VI. Eine festliche Feier

Eine volle Dreiviertelstunde ist im Nu vergangen – nur mit Schauen, Entdecken und Genießen dieser erlebnisstarken und gottvollen Basilika. Leider bleibt mir keine Zeit mehr, um mit dem Lift hinaufzufahren und die herrliche Aussicht zu genießen. Es bleibt auch keine Zeit mehr, um in die Krypta hinunterzugehen, wo – nach Gaudís Wunsch – seine sterblichen Überreste zu Füßen einer Marienstatue ruhen… Weit über dreihundert Priester in Albe und roter Stola und ca. dreißig Bischöfe – darunter vierzehn Claretiner-Bischöfe – sammeln sich in der Sakristei zum festlichen Einzug. Wir Priester stellen uns schon vorher in Hufeisenform neben und hinter den Hauptaltar. Ist es Zufall, dass ich nur ein paar Schritte vom Altar entfernt stehen darf? Es ist mir jedenfalls zugefallen! So kann ich jedes Geschehen, jede Geste der Zelebranten genau wahrnehmen. Ich kann äußerlich ganz nahe und innerlich ganz dabei sein bei dieser Premiere. Erwartungsvolle Premieren-Stimmung herrscht schon beim liturgischen Einzug der hohen Würdenträger: Kardinal Angelo Amato, Präfekt der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen, Kardinalerzbischof Juan José Omella von Barcelona, Nuntius Renzo Frattini, Pater Vattamattam, Generaloberer der Claretiner, und viele andere. Sie schreiten langsam, wie beschwerten Schrittes, dem Hochaltar entgegen. Höhepunkt im Rahmen des feierlichen  Hochamtes wird die Seligsprechung durch den persönlichen Legaten unseres Papstes Franziskus, Kardinal Angelo Amato. Während er vor dem Altar sitzend die Seligsprechungsproklamation verliest, fällt mein Blick auf die offizielle Ikone zur Seligsprechung, die gerade enthüllt wird: Die Gestalt Mariens mit allen 109 Märtyrern. 106 sind symbolisch dargestellt, als kleine Flamme, und drei bildlich als je exemplarische Repräsentanten für die 49 Patres, 31 Brüder und 29 Studenten: Pater Mateu Casals, Bruder Ferran Saperas, Frater Teófilo Casajus. Sie stehen unter dem Schutzmantel Mariens, vis à vis unseres Ordensstifters, der mit Bischofsstab und erhobener Segenshand in die Zukunft blickt. Am besten kann ich Pater Mateu erkennen. Ich frage mich: Was muss seine persönliche Berufung zum Ordensleben in ihm ausgelöst haben, dass er von seinem vertrauten Heimatort aufbrach und neun Stunden zu Fuß in die nächste größere Stadt marschierte, dort zum ersten Mal einen Zug sah, in bestieg, und ins Noviziat der Claretiner nach Vic fuhr? Wie muss die claretinische Ausbildung bis zum Priestertum sein Leben und seinen Glauben geprägt haben, dass seine Sehnsucht reifte, Christus immer mehr gleichgestaltet zu werden – im Leben und im Tod? Als Superior von Sabadell wurde er von einer Streife abgeholt, ins Gefängnis geworfen und vier Wochen später mit einigen Mitbrüdern zur Hinrichtung geführt. Unterwegs riefen sie lautstark: Hoch lebe Christus, der König! Da wird mir erst voll bewusst, dass in seiner Gemeinschaft doch Bruder Ramón Roca lebte, den ich doch kenne, denke ich; natürlich nicht persönlich, aber vom Hören-Sagen. Ich kenne ihn von Erzählungen seines jüngeren leiblichen Bruders: Bruder Jakob Roca, den ich in Wien von 1962 bis zu seinem Tod 1980 so wohltuend erleben durfte. Bruder Jakob hat mir nicht sehr viel erzählt vom Martyrium seines älteren Bruders. Denn es hat ihn jedes Mal sehr berührt. Wenn dann die Worte fehlten, hat er manchmal mit angehobenen, angewinkelten Armen eine Schussbewegung gemacht, wie die Milizen damals, die seinen Bruder am Friedhofstor erschossen haben... Dann hat Bruder Jakob nur die Arme ausgebreitet, öfter mit den Schultern gezuckt und wortlos mit dem Zeigefinger zum Himmel gezeigt: Er allein weiß es. Nicht der geringste Hauch von Groll oder Vorwurf – den Milizen gegenüber, oder Gott. Gott wird schon wissen… Bruder Jakob hat sich still in das Unverfügbare, in das Unvermeidbare gefügt. Und doch war er mit seinem goldenen Lachen immer ein Sonnenschein für uns. Sein Lieblingslied, das er fast jeden Tag gesummt oder gesungen hat, war: „Mein Gott, welche Freude… an dem Tag an dem Du kommst…“ Dieser Tag stand 1936 seinem Märtyrer-Bruder Ramón bevor. Er hatte keine Angst vor dem Tod. „Es kommt sowieso wie Gott es will.“, meinte er. So hat er niemals schlecht über die Milizen gesprochen. „Sie können uns töten, aber aus Liebe zu Gott vergeben wir allen.“ Ruhig, gefasst und im Glauben stark, fand er des Nachts unter Kugelhagel den Tod. Dabei wäre er beinahe verschont geblieben, weil die Milizen einen tüchtigen Schneidermeister wie ihn gut hätten gebrauchen können… Mir geht unkontrolliert durch den Kopf: Was wäre gewesen, wenn der eine oder andere einfach die Soutane abgelegt hätte, also nicht standhaft im Glauben geblieben wäre… Wie sagt der Volksmund oft recht flapsig dahin: „Lieber fünf Minuten feige, als ein ganzes Leben lang tot.“ Wie hätten sie gelebt in der Zeit danach; wie überlebt in ihren Gemeinschaften, Familien, Heimatorten? Dabei ist einem einzigen Mitbruder in Mas Claret das Martyrium erspart geblieben; aber nicht weil er untreu geworden wäre, sondern weil die Milizen sein Wissen, seine Erfahrung zur Aufrechterhaltung des ganzen landwirtschaftlichen Klosterbetriebes unbedingt brauchten. Was er aber später mit den Arbeitern und den Frauen, die das Komitee in eindeutiger Absicht ihm schickte, mitmachen musste, war nur ein Martyrium anderer Art.

 

VII. 109 Claretiner-Märtyrer

Bruder Ramón Roca war nur einer aus der großen Zahl der 109 Märtyrer. Hinter jedem einzelnen Namen verbirgt sich eine je eigene Biografie, eine je eigene Lebens- und Glaubenserfahrung, mit unterschiedlichen Sehnsüchten, Lebensträumen und vitalen Hoffnungen… Sie alle waren Missionare bis zum Ende, bis zur letzten Konsequenz. Sie haben alles gegeben, sogar ihr Blut. „Mit Gott riskiert man alles.“ (Jean Anouilh) Sie haben mit ihrer Lebens-Hingabe wie mit einem goldenen Faden das schönste Muster in unseren claretinischen Missionsteppich gewoben – zur Ehre unseres Web-Meisters Sankt Claret, und zur größeren Ehre Gottes. So hat Pater General zum Stifterfest 2017 ihre missionarische Identifikation mit unserem Stifter nicht als eine „isolierte Heldentat“, sondern als einen „wichtigen Teil des prophetischen Geistes der Claretiner“ betrachtet und als „Frucht eines Prozesses der Umgestaltung in Christus“. Wir dürfen – in aller Bescheidenheit – richtig stolz sein auf solche Mitbrüder. Gesegnet sind sie, weil sie nicht zurückwichen – vor keiner Macht – und keine Angst hatten – vor keinem Menschen. Sie sind Ansporn, Korrektiv und Seismograf unserer claretinischen Gewissenslandschaft. Sie werden zu Propheten, weil sie jetzt – zwar schweigend und unaufdringlich – aber doch eindringlich uns drängen zu tun, was für uns Claretiner jetzt in unserer Situation dran ist: Wohin drängt uns die Liebe Christi? Leben wir ein herzhaftes ,Ja‘ zum „Lieben bis es weh tut“? (Mutter Teresa) Halten wir aus im Mit-Leiden (compassion) mit denen, die an den Rändern unserer Gesellschaft vor sich hinleben? Wem dienen wir, helfen wir, wen heilen und ermutigen wir? Unsere Märtyrer möchten manches betäubte Gewissen wachrütteln, das die Konflikte mit Anpassung lösen möchte. Sie möchten uns die Angst davor nehmen, uns für andere verbrauchen zu lassen – ohne Wenn und Aber. „Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.“ (GL 424,5)

 

VIII. Geschenk und Herausforderung

Ihre unerschütterliche Treue und Hingabe, ihre Bereitschaft auch Kirchenhassern und Peinigern zu verzeihen, und ihre Liebe zu unserer Kongregation und zur Kirche möchten in uns etwas auslösen, damit wir nicht in einer boomenden Wellness-Spiritualität untergehen, die unversehens in Beliebigkeit und Gleich-Gültigkeit abzudriften droht. „Man soll nie zuschauen, man soll Zeuge sein, mittun und Verantwortung tragen.“ (Antoine de Saint-Exupery) Bei den heutigen weltweiten Auseinandersetzungen von Gewalt und Terror, die uns sprachlos und ohnmächtig machen, sind wir gelegentlich versucht uns zu fragen, ob nicht die alttestamentliche Devise: „Aug und Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21, 24) einfach am besten geeignet wäre, Gerechtigkeit herzustellen – so wie es damals praktiziert wurde. Aber die Märtyrer lehren uns, dass nicht die Vergeltung, sondern allein die Liebe versöhnt und heilt, weil ansonsten verschwiegene Schuld bleibt und nicht gewährte Versöhnung. Gewalt führt immer zum Tod, Liebe aber zum Leben. Die Lebens-Devise heißt nicht: ,Wie du mir, so ich dir.‘, sondern ,Wie Gott mir, so ich dir.‘ Solange wir leben, werden auch unsere Märtyrer leben. Denn sie sind ein Teil von uns, wenn wir an sie denken, schweigend oder für sie laut betend im Memento jeder Eucharistiefeier. In der heutigen feierlichen Eucharistie sind sie uns – auch in Gegenwart ihrer Reliquien – besonders nahe. Auf der Emaillierung der kleinen Truhe erstrahlt das Kreuz und es scheint, als ob Christus unsere Märtyrer umarmen möchte: 109 Räume, 109 Märtyrer umspannend. Wertvoller als Edelsteine und kostbarer als Gold ist ihr Inhalt und ihre Botschaft, die Verheißung unseres Stifters: „Die Liebe Christi drängt uns.“ Sie drängt uns immer mehr liebende Menschen zu werden, die im Aufwind des Geistes Gottes sich neu ins Verhältnis bringen lassen mit unserer missionarischen Sendung. Die Seligsprechung unserer Märtyrer ist „ein Gesang auf die unendliche Gnade Gottes und eine Einladung, seine Zeugen in unserer Welt zu sein.“, saget Kardinal Omella beim Dankgottesdienst am Tag danach. Möge unser Leben vor Gott „bewirken, dass er geliebt wird, dass ihm gedient wird, und dass er von der ganzen Welt gepriesen wird.“ (vgl. Autobiografie 233) „Es gibt nur eine Traurigkeit im Leben, nur eine: Kein Heiliger zu sein.“ (Léon Bloy) Unsere Märtyrer sind im Blut des Lammes reingewaschen und weiß geworden. „Hi sunt, qui dealbaverunt stolas suas in sanguine agni.“ Ich bitte unsere Märtyrer, dass sie unsere Schwierigkeiten sehen: Voll Sehnsucht treu sein zu wollen, aber es doch nur zögerlich zu vermögen. Sie, die nur ein Gebet weit von uns entfernt sind, mögen fürbittend alles vor Gottes erbarmende Liebe tragen. Die Strahlkraft und Relevanz dieser Seligsprechung und die gespannte Aufmerksamkeit der ca. 3500 Gläubigen hat sich nach dem Schlusssegen und den bewegenden Danksagungen in einen herzlichen, langanhaltenden Applaus entladen, und ist in einer völlig gelösten, polyglotten, heiteren Atmosphäre ausgeklungen.

 

Deo gratias!